Können wir Europäer etwas aus Fukushima lernen?
Ein guter Freund, Harald Freunbichler, hat gestern eine Mail geschrieben, deren Inhalt ich so gut und lesenswert fand, daß ich sie Euch nicht vorenthalten möchte. Deshalb hier veröffentlicht mit seiner Genehmigung:
Können wir Europäer etwas aus Fukushima lernen?
Gestern lief im ARTE die Rekonstruktion der Ereignisse im Kontrollraum von Fukushima (und darum herum). Wer das nicht gesehen hat und dafür Interesse hat, kann es auf ARTE+7 noch sechs Tage sehen. Der Film Fukushima – Chronik eines Desasters hat 48 Minuten.
Für mich ist die zentrale Frage angesichts von Katastrophen – die eine oder andere solche persönliche habe ich ja schon erlebt – was daraus zu lernen wäre.
Können wir Europäer aus Fukushima etwas lernen? Sollen wir das überhaupt?
Einerseits war dies eine außergewöhnliche Naturkatastrophe. Daraus können nur regional Betroffene lernen. Das betrifft eine(n) Mitteleuropäer(in) also nicht. Lässt sich andererseits aus den Vorgängen – und dabei hat mir der gestrige Film wesentlich geholfen – eine allgemeine Erkenntnis ableiten?
Ich denke ja. Meine Ansicht ist nun gefestigter als zuvor.
Die Büchse der Pandora ist schon lange offen, kann aber von uns wieder geschlossen werden! Eine kleine Geschichte meiner Zeit:
Ich kann mich noch gut an einen Tag, kurz vor dem Volksentscheid gegen das Österreichische Atomkraftwerk Zwentendorf am 5. November 1978 erinnern. Ich war gerade in das damals gültige Wahlmindestalter eingetreten gewesen.
Mein Cousin Peter hatte mich zu seinem Halbbruder Thomas mitgenommen. Ich war in der folgenden Gesprächsrunde einbezogen. Die allgemeine Tendenz war damals an diesem Nachmittag eindeutig gegen die Inbetriebnahme gerichtet. Das war mir recht unverständlich. Ich war überzeugt, dass wir Techniker – ich bezeichnete mich damals schon so, und tue das heute noch – diese umfangreiche Technologie beherrschten. Das artikulierte ich dann letztlich auch.
Ich erntete eine deutliche Abfuhr und fühlte mich danach unverstanden. Die folgende Stilllegung betrachtete ich als kostspieligen Fehler.
Es kam der April 1986. Tschernobyl ist von Salzburg 1290km entfernt. Damals besuchte ich die Abendschule. In dieser Zeit der intensiven Persönlichkeitsbildung wurde ich vom Saulus zum Paulus. 1998, 12 Jahre danach, war die Belastung bei bayerischem Schwarzwild, nach amtlichen Messungen noch bis 65.000 Bq/kg Fleisch. Strahlenquellen kumulieren im Körper! Heute ist Cäsium erst zu 50% zerfallen und liegt u. a. in Deutschland, Österreich, Tschechien und der Slowakei in obersten Bodenschichten.
Ohne mich aus der Retrospektive mit Details beschäftigen zu wollen, denke ich, dass damals vor allem Menschliches Versagen ursächlich war.
Gibt es also letztlich keine Verbindung, keine allgemeingültige Einsicht, die beide Katastrophen, Fukushima und Tschernobyl verständlich macht?
Meines Erachtens gibt es die. Die Aussagen der direkt involvierten Techniker, im genannten Film tritt nur einer persönlich vor die Kamera, sind eindeutig. Auch hier haben menschliche Fehler[1] die Katastrophe zumindest beschleunigt. Ein einziger Rohrleitungsschieber, manuell geöffnet, hätte mindestens sieben Stunden Verzögerung gebracht und damit die Chance auf weitere kurzfristige Maßnahmen eröffnet. Nimmt man die Fakten (aus dem Film – dazu ließe sich sicher weiter recherchieren) eins zu eins, dann war die Nuklearkatastrophe sogar vermeidbar.
Somit sind für mich beide Katastrophen nur Symptome ein und derselben Problematik. Der Menschliche Faktor ist nicht kalkulierbar, nicht vermeidbar.
Die Folgen einer Nuklearkatastrophe sind überregional irreparabel und endgültig. Deshalb ist m. E. diese Technologie der Griff des Ikarus nach der Sonne.
Wir dürfen das den Kindern nicht antun.
Ich werde eine Einwendung gegen Tschechiens Atompolitik unterzeichnen.
Liebe Grüße, Harald
[1] Menschliche Fehler sind Symptome von tieferliegenden Fehlern im System. Um Versagen zu erklären, sollte man nicht nur danach suchen, wo Menschen Fehler gemacht haben. Man muss auch danach suchen, warum die Einschätzungen und Handlungen von Menschen in der gegebenen Situation Sinn zu ergeben schienen. Quelle: Wikipedia